Johann Sebastian Bach (1685-1750)

Als in der europäischen Musikgeschichte des 17. Jahrhunderts Deutschland auf dem Gebiet des Orgelbaus und der Orgelmusik die Führung übernahm, kristallisierten sich in der „freien“, d.h. nicht an einen Choral gebundenen Musik verschiedene Formen und Gattungen heraus. Zu einer der beliebtesten wurde der musikalische Gegensatz von primär homophoner, virtuoser Toccata (bzw. Präludium oder Fantasie) und streng auf das Thema bezogener, polyphon durchgearbeiteter Fuge. Die Toccata (von lat. toccare = die Tasten berühren) stellt dabei eine improvisatorisch und spielerisch bestimmte Komposition mit Elementen dar, die dem schöpferischen Urtrieb des „homo ludens“ entspringen. Seit 1540 wissen wir aus den Bestallungsregeln von San Marco in Venedig, daß der Bewerber um ein Organistenamt die Fähigkeit nachweisen mußte, „d´improviso“ zu spielen. Und zur Bach-Zeit heißt es beim Theoretiker und Komponisten J. Mattheson (1737): „Die Toccaten werden meistenteils ordentlich zu Papier gebracht, halten aber so wenig Schranken und Ordnung, daß man sie schwerlich mit einem anderen Namen als guter Einfälle belegen kann.“ Ebenfalls aus dem 18.Jahrhundert stammt eine Definition von Forkel („Allgemeine Geschichte der Musik“), die in einer Fuge nicht nur eine Musik voll subtilen theoretischen Wissens, sondern ein Symbol sah: „Man hat die Fuge nicht für die Frucht einer bloßen Künstlerpedanterie zu halten, sie ist eine Frucht der Natur. Die Fuge ist unter den übrigen Musikgattungen die prächtigste, vollkommenste und größte, so wie unter den verschiedenen Äußerungen unserer Empfindung, die allgemeine Übereinstimmung eines ganzen Volkes, in dem Ausdruck seines Gefühls, das prachtvollste, rührendste und größte Schauspiel ist."

Welche formale und stilistische Vielfalt die Bachschen Toccaten und Fugen aufweisen, lehrt schon ein flüchtiger Blick auf die beiden hier eingespielten Werke. BWV 566 präsentiert nach einem figurativ beginnenden Vorspiel ein langes, thematisch ungefüges Fugenthema, dem nach einer kurzen Überleitung ein zweites folgt; es ist thematisch mit dem ersten verwandt, endet in einer konzerthaften, homophonen Coda und läßt Bachs Synthese von toccatenhaftem Aufbau und Variationsprinzip der Canzone erkennen. BWV 564 offenbart dagegen den Versuch, die Formenwelt des dreisätzigen italienischen Konzerts auf die Orgel zu übertragen. Nachdem toccatenartige Manual- und Pedalpassagen (19 Takte Pedalsolo) den ersten Takten das Gepräge gegeben haben, wird der italienische Einfluß in einem Konzertsatz orchestraler Haltung hörbar, in welchem der Kontrast einer aufsteigenden Skalenfigur und eines fallenden Dreiklangmotivs bestimmend sind.

Die 1746 im Verlag von Joh. G. Schübler erschienenen, pädagogisch orientierten sechs Choräle sind keine Originalkompositionen, sondern Übertragungen von Solostimmen oder Duetten aus früheren Kantatensätzen für die Orgel. In den Transkriptionen treten die ehemals vokalen oder instrumentalen Hauptstimmen ohne weitgehende Änderungen scharf ins Licht, da sie durch das Spiel auf gesondertem Manual oder im Pedal besonders markiert werden. Die Cantus-Firmus-Technik der Bachschen Bearbeitungen vermeidet die strenge polyphone Arbeit und überträgt die drei oder vier Stimmen der Vorlagen so auf die Orgel, daß die Ausdrucksfähigkeit der originalen Linien erhalten bleibt.

Uwe Kraemer

Max Reger (1873-1916)

Max Regers vornehmlich kontrapunktische Schreibweise erstreckt sich von den Kompositionsformen des Barock bis zu denen der Spätromantik. Er verstand es, die Formgebungen weiterzuentwickeln und sie mit einer Art „panchromatischer Harmonik“ zu erfüllen. Für die Organistenwelt stellt sein Schaffen neben dem in der Zwischenzeit unerreichten „Bach-Œuvre“ einen zweiten Glanzpunkt der Orgelliteratur dar. Regers Aussage „Ich bin der glühendste Verehrer Bachs, Beethovens und Brahms`, (ich) sollte den Umsturz predigen! Was ich will, ist ja doch nur eine Weiterbildung dieses Stiles“ bestätigt diese Feststellung.

Die 2. Sonate in d-moll, op.60, ist 1902 in München entstanden. In ihrem logisch aufgebauten ersten Satz kann die Bezeichnung „Improvisation“ als Hinweis auf die Erweiterung der üblichen Sonatensatzform wie auch auf eine freiere Wiedergabe aufgefaßt werden. Kontrastreiche und kleingliedrige Teile, die Verarbeitung von vier Themen, bestätigen diesen Gedanken. Die für den zweiten Satz gewählte Überschrift „Invocation“ kann ebenso als Gestaltungshinweis gesehen werden: Nach stiller und schmerzlicher Anrufung (Grave con duolo) versucht eine dramatische Bewegung gleichsam einen Ausbruch aus dieser Stimmung, um schließlich wieder in eine irdische Düsternis zurückzufallen. Aus ihr geht eine hoffnungsvolle Antwort auf die Anrufung hervor, der Choral „Vom Himmel hoch, da komm ich her“, hochromantisch und in typisch Reger`scher Intensität. In der „Introduktion“ mit ihrer thematischen Stimmun-gszerrissenheit bereitet der Komponist den kontrapunktisch klar gesetzten Abschluß in Form einer groß angelegten Fuge vor (Max Reger: „Andere machen Fugen; ich kann nicht anders als darin leben“). Das Fugenthema erscheint als Abwandlung und Steigerung eines Themas aus dem 1.Satz. Nach einem gegen Schluß zu noch eingefügten virtuosen Mittelteil steigert sich die Fuge unter Anwendung verschiedener kompositorischer Mittel wie Eng- und Parallelführungen und dynamischen Entwicklungen bis zum „organo pleno“.

Aus der Sammlung von zwölf, innerhalb von 14 Tagen komponierten Stücken, op.59, stammen das „Gloria“ (con moto festivo), das als Themenkernpunkt die Gloria-Intonation der 4. Choralmesse (Cunctipotens Genitor Deus) beinhaltet, und das „Benedictus“, das tief religiös empfunden in einem musikalischen Bogen vom mystischen Klang bis zum strahlenden Hosannajubel und vom verherrlichenden Hosannaruf zu einer seraphischen Anbetungsstimmung führt (Max Reger: „... alles was ich weiß und kann, ist - Gnade“).

In sehr schlichter, aber sehr inniger Weise stellt sich das Opus 145,3 mit dem Titel „Weihnachten“ dar. Beginnend in besinnlicher Adventsstimmung erscheinen in der Folge die Choräle „Es kommt ein Schiff, geladen bis an sein‘ höchsten Bord“, „Hosianna Davids Sohne, der jetzt kehret bei uns ein“ (nach der Melodie: „Ach was soll ich Sünder machen“) und schließlich der Choral „Vom Himmel hoch, da komm ich her“ in Verbindung mit dem Motiv des Liedes „Stille Nacht“.

Der Ausspruch: „Die Protestanten wissen gar nicht, welch` musikalischen Schatz sie an ihren Chorälen besitzen“ vermittelt Regers Drang nach der Komposition von Choralfantasien, die er zu „sinfonischen Dichtungen“ (1) steigerte. Ein typisches Beispiel dafür stellt die Fantasie über den Choral „Wachet auf, ruft uns die Stimme“ dar, opus 52,2, der in der evangelischen Kirche zum Ende, in der katholischen Kirche zu Beginn des Kirchenjahres (Advent) gesungen wird. Bei Hugo Ernst Rahner ist zu lesen: „Für das Erscheinen des Chorals im musikalischen Kunstwerk wird das romantische Erlebnis des Chorals bestimmend. Der Choral verkörpert nicht mehr das in die Liturgie eingeordnete Gemeindelied, sondern das künstlerische Symbol des Religiösen“ (1). Wechselnde Stimmungen werden in der Einleitung dargestellt: Einerseits „Grabesstille“ (von Reger als „Kirchhof“ bezeichnet und mit sehr dumpfer Registrierung gefordert), andererseits aufbrausende Weckrufe, bis endlich in der Oberstimme der Choral in „lichter Vision“ (1) als Engelsstimme erscheint. Textbedingt („Mitternacht heißt diese Stunde“) wird diese Stimmung unterbrochen durch zwei düstere Einwürfe, in denen das Erwecken der Toten symbolisch dargestellt wird durch orgelpunktartige, rhythmisierte Halbtonschritte. “Mit unerhörter Bild-und Stimmungskraft gibt Max Reger den mystischen Gesichtern, dem ekstatischen Überschwang des frommen Dichters Philipp Nicolai musikalischen Ausdruck: dem gespenstisch brauenden Dunkel der Mitternachtsstunde, in die der Choralruf des Wächters ertönt, die schlafenden Jungfrauen zu wecken, ihrem freudigen Aufbruch, der jubelumbrausten Ankunft des Bräutigams (Ihr Freund kommt vom Himmel prächtig)“ (2).

Der Thomaskantor Karl Straube (1873-1950) äußerte sich in einem Brief an einen Kollegen: „Die Worte ‚und feiern mit das Abendmahl‘ hat Max Reger beim Schaffen des Werkes in der Tiefe seiner Persönlichkeit erfaßt. Als Katholik war ihm die Communio das größte Mysterium, und von diesem Fühlen aus gab er der Stelle jene keusche Innigkeit, um damit die völlige Auflösung des Individuums in der Gemeinschaft mit Christus in mystischen Klängen zu verklären. Das sind die Gedanken, die Max Reger mir über den Sinn dieser Variation mit ihrem Ausklang bis zur Fuge geäußert hat“ (3).

Und Fritz Stein: „Aus der Andachtsversunkenheit dieses Monologs (‚Nun komm, du werte Kron‘) führt die herrliche, machtvoll sich türmende Fuge wieder empor ins Licht (‚Gloria sei dir gesungen‘). Immer höher schwillt ihr Jauchzen, bis sie auf dem Gipfelpunkt der Steigerung den im überirdischen Glanze erstrahlenden Choral ‚kein Aug hat je gespürt, kein Ohr hat je gehört solche Freude‘ umlodert“ (2).

München, im Juli 2000
Franz Lehrndorfer

(1) Hugo Ernst Rahner: „Max Regers Choralfantasien für die Orgel“
(2) Fritz Stein: „Max Reger“
(3) Karl Straube: „Briefe eines Thomaskantors“