“JE WESENTLICHER, VEREINFACHTER, DIE AUSSAGE, DESTO UNMITTELBARER UND STÄRKER IST DIE WIRKUNG." — CARL ORFF

Von der flüchtigen Miniatur bis zur großen ekstatischen Bewegungsmusik, vom trommelbegleiteten Spielaufzug bis zum poetischen Geigenstück, vom Kinder-, Volks- und Tanzlied bis zur Märchenerzählung spannt sich der Bogen in Carl Orffs und Gunild Keetmans Orff-Schulwerk—die vorliegende Einspielung versammelt die kaleidoskopische Vielfalt dieses pädagogischen Werkes in einem Querschnitt. Alle Stücke überraschen dabei durch eine ungemein gestische Kraft, die sie vor allem aus ihrer Reduktion auf das Wesentliche und Elementare beziehen: schnörkellos, in der Satztechnik archaischer Fundamentformen wie Bordun und Ostinato ziehen diese Stücke vorüber, mal zart wie Traumgespinste, dann wieder von rhythmisch-wuchtiger, erdenschwerer Kraft, verspielt oder wehmütig.

Daß die Modellstücke des Orff-Schulwerks mehr sind als bloße pädagogische Übungen, verdanken sie der unverkennbaren Handschrift des Komponisten und Musikdramatikers Orff, der “Ganzheit von Kunst und Erziehung” (Gunild Keetman). Orffs Absicht, in der Musik Sprache und Bewegung zu einer Einheit im Sinne der altgriechischen Musiké zu verschmelzen, bestimmt nicht nur seine großen Bühnenwerke wie Carmina Burana, Die Kluge, Die Bernauerin oder sein Weihnachtsspiel Ludus de Nato Infante mirificus, sondern auch das kleinste Musikstück im Schulwerk. Angelegt sind hier immer schon Bewegung, szenisches Element und Bildkraft, Qualitäten, aus denen das Bühnenwerk entwachsen konnte.

Orff hat für sein Schulwerk ein eigenes Instrumentarium entwickelt, das vor allem auf Rhythmus-Instrumenten basiert—Xylophone aller Größen, Glockenspiele, Pauken und Tambourins, Schellenbänder und Triangeln. Hierfür ließ Orff sich vom farbenreichen Instrumentarium des altindonesischen Gamelan ebenso anregen wie von afrikanischen Musikkulturen, womit er schon in den Zwanziger Jahren ein wahrer “Weltmusiker” war. Heute ist dieses Orff-Instrumentarium längst in Kindergärten, Schulen und therapeutischen Einrichtungen weltweit etabliert.

Orff-Schulwerk—unter diesem Titel wurden von Carl Orff und seiner Mitarbeiterin Gunild Keetman in über drei Jahrzehnten elementare Musikstücke zusammengetragen, die Modellcharakter besitzen und zu Improvisation, Phantasie und Spaß am Musikmachen anregen wollen. Die Freude am kreativen Ausprobieren soll geweckt werden, denn alle Kinder, so Orff, haben musikalisches Talent, das nur gefördert werden müsse. So geht Orff in seinen Musikbeispielen auch behutsam vor und beginnt zunächst mit einfachen Übungen im leittonfreien Fünftonraum, um dann allmählich an die Dur-Moll-Tonalität, den Siebentonraum und traditionelle Formen wie Kanon, Variation oder Rondo heranzuführen.

Der Titel Schulwerk greift in mehrerlei Hinsicht die Strömungen der Zeit auf: er ist der Bauhaus-Idee mit ihrem Ineinandergreifen von Kunst und Handwerk ebenso verbunden wie dem vermehrten Erscheinen unterschiedlichster Lehrwerke, angefangen bei Béla Bartóks Mikrokosmos (1926–39) über Zoltän Kodälys vokaler Elementarschule Bicinia Hungarica (1937–42) bis zu Paul Hindemiths jugendbewegtem Schulwerk für Instrumental-Zusammenspiel von 1927 oder Erich und Elma Dofleins fünfbändigem Geigenschulwerk (1932–50).

Die erste Fassung des Orff-Schulwerks, in mehreren Einzelheften zwischen 1930 und 1935 veröffentlicht, ist bewegungsbetont und verdankt ihr Entstehen langjähriger Praxiserfahrung, die Orff und Keetman an der Tanz- und Gymnastikschule von Dorothee Günther in München sammeln konnten. Die spätere Neukonzeption des Schulwerks, die fünfbändige Musik für Kinder (1950 bis 1954) samt mehreren Ergänzungsheften, geht auf Schulfunksendungen im Bayerischen Rundfunk zurück und stellt vor allem die Sprache und Bildkraft des Kinder- und Volksliedes ins Zentrum. Wie kam es zum Entstehen des Orff-Schulwerks?

“AM ANFANG WAR DIE TROMMEL” —

Mit diesen Worten wurde Orff im Herbst 1923 von Curt Sachs, dem Leiter der Staatlichen Musikinstrumenten-Sammlung in Berlin, nach einem Berlin-Besuch verabschiedet. Zum einen hatte Orff seine Bearbeitung von Monteverdis L’Orfeo vorgestellt, die auf Sachs’ Anregung zurückging. Sachs, der den Komponisten Orff in einem Berliner Konzert 1920 mit dessen Werfel-Liedern kennengelernt hatte, erkannte sofort Orffs eigentliche Begabung—“Sie sind der geborene Musikdramatiker, Ihr Feld ist die Bühne”—und hatte ihn daher aufgefordert, bei dem “ersten Musikdramatiker”, Monteverdi, in die Lehre zu gehen. Zum anderen aber berichtete Orff bei jenem Besuch von seinem neuesten Plan, mit einer Gymnastik- und Tanzschule in München zusammenzuarbeiten, deren Gründung kurz bevorstand.

Angeregt von der “Neuen Tanzbewegung”, die seit Anfang des Jahrhunderts durch München-Schwabing wirbelte, hatte Orff sich eine Erneuerung der Musik vom Tanz her gewünscht. Der neue, ganz aus dem Körper kommende und unerhört musikalische Tanzstil der legendären Mary Wigman war es, der für den musikalischem Werdegang des jungen Orff nach der Theaterarbeit an den Münchner Kammerspielen mit Otto Falckenberg und der musikalischen Beschäftigung mit alten Meistern (Lassus, Palestrina, Gabrieli und Monteverdi) eine schicksalhafte Bedeutung bekommen sollte: “Sie konnte mit ihrem Körper musizieren und Musik in Körperlichkeit umsetzen. Ihren Tanz empfand ich als elementar. Auch ich suchte das Elementare, die elementare Musik”, erinnert sich Orff Jahre später an die erste Begegnung mit Wigman. Curt Sachs nun besaß nicht nur eine phänomenale Kenntnis zahlloser Musikinstrumente aus aller Welt und aller Epochen, sondern arbeitete auch an einer Weltgeschichte des Tanzes, die er noch 1933 in Berlin veröffentlichen konnte, war somit also der ideale Gesprächspartner für Orffs neue Pläne im Herbst 1923. “Der Tanz steht den Wurzeln aller Kunst am nächsten”, lautete die Prämisse von Sachs, und so konnte er Orff auf seiner Suche nach dem Elementaren in der Musik und dem Vorhaben, Bewegung, Tanz und Musik wieder zu ursprünglicher Einheit zu verschmelzen, nur unterstützen: “Sie verfolgen mit ihrem Plan ganz eigene Absichten und denken, auf diesem Wege zu Quellen zu kommen, die sonst unbeachtet bleiben oder übersehen werden. Sie wollen ‘zu den Müttern’ hinabsteigen, dorthin, wo aller Anfang liegt (...) Das Elementare ist Ihr Element und das werden Sie, wenn ich Ihre weitgespannten Darlegungen recht begreife, dort wiederfinden.”

Von entscheidender Bedeutung wird für Orff die Begegnung mit der jungen Malerin und Schriftstellerin Dorothee Günther 1923 in München. In ihr fand Orff einen “hellwachen, klaren Kopf, voll von neuen Ideen”, zu denen auch die Gründung einer Schule zur Lehrausbildung in moderner Körper- und Tanzerziehung gehörte.

“Aus Bewegung Musik—aus Musik Tanz”, lautete das Motto der Günther-Schule, die September 1924 in einem Hinterhofgebäude der Münchner Luisenstraße 21 ihre Pforten öffnete: Orff war für die Musikerziehung zuständig, drei Fachkräfte lehrten Gymnastik, Rhythmik und Tanz, Dorothee Günther übernahm die theoretischen Fächer.

Hier fand Orff, dem Rhythmus im altgriechischen Sinn allzeit die “einigende Kraft von Sprache, Musik und Bewegung” bedeutete, ein ideales Experimentierfeld vor: Ausgangspunkt seines elementaren Musizierens bildeten freie rhythmische Im-provisationen, in die er auch akzentuierende Körpergesten wie Händeklatschen, Fingerschnalzen und Stampfen oder mitgedachte Texte einbezog. Hinzu kamen Rasseln, laut Sachs zu den “urältesten Instrumenten der Menschheit” gehörig, nicht selten aus getrockneten Früchten, Muscheln und ähnlichem nach afrikanischen Vorbildern selbstgefertigt, sowie Hand- und Schellentrommeln.

Pflichtfach an der Günther-Schule war außerdem die “Klavierübung”, die im Einzelunterricht nach einiger Zeit von Orffs Schülerin, der Münchner Cembalistin Anna Barbara Speckner, übernommen wurde. Im Vordergrund standen neben musiktheoretischen Grundfragen die Entwicklung eines Bordunstils als Klanggrundlage und die Improvisation mit pentatonischen Skalen. Zur Musikerziehung gehörte neben chorischen Vokalimprovisationen schließlich noch die sogenannte “Dirigierübung”, in der die Improvisation gestisch ausgestaltet wurde—laut Orff “ein fast tänzerisches Führen der Musik (...), Musik aus und nach der Bewegung.”

Mit der Tänzerin Maja Lex und der für Bewegung und Musik gleichermaßen begabten Gunild Keetman kamen 1925 bzw. 1926 zwei Studierende an die Schule, die sowohl dem Tanz wie der Musik ein neues, unverwechselbares Profil geben sollten. Lex führte mit ihren Tanzkompositionen die 1930 gegründete Tanzgruppe der Günther-Schule zu internationalem Ruhm, unterstützt von Keetmans Begleitmusiken und dem von ihr geleiteten Tanzorchester.

Unverzichtbar für Orffs pädagogische Arbeit wurde vor allem aber Gunild Keetman, ohne die das Schulwerk nicht seine heutige Gestalt hätte. Sie war es, die sich mit dem Spiel des Xylophons vertraut machte, hierfür kleine Spielstücke entwickelte und aufzeichnete und die außerdem autodidaktisch das Flötenspiel erlernte. Damit konnte die Blockflöte Ende der Zwanziger Jahre als Melodieinstrument zum inzwischen beträchtlich angewachsenen Schlagwerk hinzutreten.

Unter der Beratung von Curt Sachs und der praktischen Mitarbeit des Münchner Klavier- und Cembalobauers Karl Maendler waren Xylophone und Stabspiele entwickelt worden, darunter Glockenspiele und Metallophone. Maendler baute beispielsweise nach einem einfachen Xylophon-Modell, das aus einer alten Holzkiste bestand, sein erstes eigenes Xylophon—der Weg zum Schulwerk-Xylophon war geschafft.

Um 1930 war Orff zufolge die Zeit des Experimentierens an der Günther-Schule abgeschlossen, die in der Lehrpraxis gesammelten Erfahrungen wurden fixiert und erschienen ab 1930 unter dem Titel Orff-Schulwerk, Elementare Musikübung. An deren Herausgabe waren neben Orff und Keetman besonders die Mitarbeiter Hans Bergese und Wilhelm Twittenhoff beteiligt. So fand die seinerzeit kühne Schulwerk-Idee in den Dreißiger Jahren zunehmende Verbreitung und das Berliner Kulturministerium beabsichtigte sogar, sie in den Berliner Grundschulen zu etablieren—Pläne, die sich freilich mit dem Machtantritt der Nazionalsozialisten und dem Kriegsausbruch zerschlugen. Bei den Olympischen Spielen 1936 erlebte die Günther-Schule ihren letzten öffentlichen Groß-Auftritt, bevor sie 1944 von den Nazis beschlagnahmt und Januar 1945 durch Bomben völlig zerstört wurde.

Nach dem Krieg war es der Münchner Musikkritiker Walter Panofsky, der das Orff-Schulwerk 1948 wiederentdeckte und sogleich Annemarie Schambeck, Leiterin des Bayerischen Schulfunks, darauf aufmerksam machte. Sie reagierte prompt und mutig und riß Orff aus seiner Arbeit an Antigonae mit der telefonischen Anfrage, Musik für eine Sendefolge zu schreiben, die von Kindern selbst musiziert werden könne. Nach einigen Bedenken—schließlich hatte er seine elementare Musik bisher vor allem mit Erwachsenen erarbeitet—willigte Orff ein und machte sich mit Gunild Keetman an die Arbeit. Ausgangspunkt bildete nun nicht mehr die Bewegung, sondern die Welt des alten Kinderlieds und Kinderreims, die von den Kindern gesungen, gespielt und getanzt oder auch selbst erfunden werden konnten. Als Hauptquelle für diese neue Form der Sprachaufschließung diente Orff die über 6000 Beispiele starke Sammlung Franz Magnus Böhmes, Deutsches Kinderlied und Kinderspiel von 1897, die den Komponisten zu einer Musik “vom Kinde aus” anregte. Die Resonanz der ersten Sendung vom 15. September 1948 war entsprechend groß, die musizierenden Kinder im Studio hatten die zuhörenden Kinder daheim oder im Schulunterricht derart zum Mitmusizieren angeregt, daß zahllose Anfragen nach dem verwendeten Instrumentarium eingingen. Hier half Klaus Becker-Ehmck aus, der noch bei Karl Maendler gelernt hatte, und baute die ersten Stabspiele für das neue Schulwerk. Aus seiner Werkstatt in München-Gräfelfing sollte das Orff-Instrumentarium in die ganze Welt gelangen.

Diese Schulfunksendungen des Bayerischen Rundfunks bildeten die Basis für die ab 1950 von Orff und Keetman veröffentlichte fünfbändige Ausgabe Orff-Schulwerk. Musik für Kinder, ihrerseits Kern von Orffs Musikpädagogik. Mit zahlreichen übersetzungen dieser Bände sowie Schulwerk-Kursen und Vorträgen wurde die Schulwerk-Idee weltweit bekannt, am Salzburger Mozarteum eröffnete 1961 das Seminar des Orff-Schulwerks, zwei Jahre später das Orff-Institut, wo neben einer Lehrausbildung für elementare Musik- und Tanzerziehung auch Kinderklassen ihren Platz haben.

“Am Anfang war die Trommel ...” Was einst mit Rhythmus und Bewegung an der Günther-Schule begonnen hatte, verband sich nun in der Musik für Kinder zu der von Orff angestrebten Einheit von Bewegung, Musik und Sprache.

ZUR EINSPIELUNG

“Improvisationen, die wieder zur Improvisation führen wollen”—dieser Anspruch, den Orff für die Musikstücke des Schulwerks formulierte, macht neben der Identität von Werkstil und pädagogischer Übung in erster Linie die Besonderheit seines pädagogischen Ansatzes aus. Das “protokollierte Experiment” (Werner Thomas), in der Praxis in der Günther-Schule und im Schulfunk erprobt, wird zum Modell, das seinerseits wieder offen ist und zum aktiven Mitgestalten auffordert. Freude am Kombinieren, Zusammenstellen, Abwandeln, am Ausprobieren neuer Besetzungen, kurzum: Spaß am Musikmachen überhaupt und am spielerisch-kreativen Umgang mit vorgegebenem Material, zu dem Orff immer wieder ausdrücklich auf- und herausfordert, wurden in der vorliegenden Einspielung phantasievoll beherzigt, ja machen ihren Charme aus. Ganz im Sinne seines Lehrers Orff ging Wilfried Hiller, künstlerischer Leiter dieser Aufnahme, vor: Er erweiterte mit großem atmosphärischem Gespür Instrumentalstücke um Mittelteile, die er nicht selten in Übestücken desselben Schulwerk-Bandes fand (Nr. 24 und 25), bereicherte Lieder um instrumentale Zwischenspiele (Nr. 23, 26, 36 und 42), sorgte für Farbnuancen im Schlagwerk (z.B. in Nr. 14 Zusatz der Triangel; in Nr. 15 Schellentrommel statt Pauken) oder richtete Tänze aus Orffs Klavier-Übung 1 für Violine und Violoncello ein (Nr. 10, 11, 28 und 29).

Für einen authentischen Aufführungsstil steht auch der Schlagzeuger Karl Peinkofer, hat doch Orff mit ihm so manchen Schlagzeugpart seiner Bühnenwerke erprobt. Und der Tonmeister Ulrich Kraus schließlich kann ebenfalls auf eine jahrelange Zusammenarbeit mit Orff zurückblicken, er nahm alle “Bairischen Stücke”, gesprochen vom Komponisten selbst, auf und produzierte mit der Gruppe “Between” Improvisationen über Themen aus dem Orff-Schulwerk.

Gut ein Drittel der hier eingespielten Musikstücke entstammen der fünfbändigen Musik für Kinder. Der 1950 erschienene Band I setzt Maßstäbe für die übrigen Bände, denn die rhythmisch-melodischen Übungen des Mittelteils—sie gehen übrigens auf Orffs Rhythmisch-melodische Übung von 1931 zurück—sind laut Orff auch für die Folgebände verbindlich.

Zu Band I gehört die Sprechübung: Der Salzburger Kinderreim Tun ma gehn, Rösserl bschlagn (Nr. 18), rhythmisch begleitet von einem Klatschchor, ist ein besonders schönes Beispiel für das Miteinander von Körpergeste—hier Klatschen Knieschlag und Klatschen Stampfen—und Sprache. Orff hat diesen Reim denn auch gleich zweimal in seinen ersten Band aufgenommen, innerhalb der “Reime- und Spiellieder” und der “Rhythmisch-melodischen Übung”.

Band IV enthält vorwiegend alte Volks- und Kinderlieder verschiedener Länder, das plattdeutsche Lied des Leierdrehers (Lirendreier, Nr. 26) aus dem Oldenburgischen ebenso wie das französische Marmotte (Nr. 30), in dem ein Savoyarden-Knabe mit seinem Murmeltier (marmotte) umherzieht und das schon Beethoven zu einer eigenen Fassung anregte (op. 52/7). J’ai vu le loup (Nr. 36)—“Ich sah den Wolf, den Fuchs, den Hasen” ist textlich und melodisch einem alten französischen Kinderlied entlehnt; schweifende Bordunen-Archaik im eingefügten Zwischenspiel intensiviert dessen altertümlichen Charakter. Einer flirrenden, irrealen Märchenwelt scheint der nur neuntaktige Spruch In kleinstem Raum pflanz einen Baum (Nr. 23) anzugehören, der hier um ein kurzes Zwischenspiel erweitert wurde—vielleicht eines der schönsten Beispiele für Orffs kompositorischen Ansatz, mit dem Wesentlichen stärkste Wirkung zu erzielen.

Aus der Sammlung Des Knaben Wunderhorn stammen die letzten zwei Lieder, beides Wiegenlieder: Wiegenlied, Nr. 39, das der gleichen Traum- und Zauberwelt anzugehören scheint wie der vorhergegangene Abendsegen Nr. 38, ein Abendgebet aus dem 16. Jahrhundert, und das bittertraurige Lied der armen Bettelfrau, die ihr krankes Kind in den Schlaf—genauer, in den Tod—singt (Nr. 42):

Eia popeia popole,
unser Herrgottche wird dich bald hole,
Kömmt mit dem gulderne Lädche,
legt dich hinunter ins Gräbche,
über mich, über dich,
kummer mit’nander ins Himmelrich!”

Was im ersten Band der Musik für Kinder mit kurzen Sprechübungen zur rhythmischen Erziehung begann, ist im fünften auf Märchen, Balladen und Ausschnitte aus Tragödien von Goethe und Hölderlin ausgeweitet, wie auch der Tonraum von der Pentatonik des ersten Bandes auf die “elementar-harmonischen Grundlagen des Siebentonraumes” erweitert ist.

Für Das Märchen von Klein-Flöhchen und Klein-Läuschen (Nr. 41, siehe Anhang) diente Orff als Textvorlage ein französisches Märchen, in unserer Einspielung vorgetragen von Orffs Tochter Godela. Der Text wird vom begleitenden Schlagwerk einerseits untermalt, andererseits formal gegliedert: das “Gehen” und der “Trauermarsch” erhalten jeweils eigene Schlagwerk-Formeln.

Stark rhythmisch betont sind der Ekstatische Tanz (Nr. 27) und der Gassenhauer (Nr. 1). Letzterer, ein Lautensatz Hans Neusiedlers von 1536 in der Einrichtung Gunild Keetmans für Schlaginstrumente, sorgte bei Orffs 75. Geburtstag am 10. Juli 1970 für ungewollte Heiterkeit. Zum Geburtstagsständchen hatten sich die besten Schlagzeuger Münchens im idyllischen Dießen am Ammersee eingefunden, darunter auch Karl Peinkofer: “Nach einer Informationsprobe bauten sich zehn Schlagzeuger mit ihren Instrumenten im Garten des Jubilars auf, um ihn nach seiner Mittagsruhe mit einem Ständchen zu überraschen. Wir wählten Gunild Keetmans Gassenhauer und legten flott los. Leider aber hatten wir nicht mit der leichten Ammersee-Brise gerechnet, die uns bald die Noten durcheinanderwirbelte und uns zu einem unqualifizierten Abschluß zwang. Auch die etwas später noch einmal angebotene Fassung ging unter allgemeinem Gelächter in den Graben und Orff meinte gütig: ‘Ja, ihr lernt’s schon noch.’” Was hier der Wind vereitelt hatte—und überdies noch ein Unglücksrabe, der während des gesamten Stückes in der falschen Notenzeile hinterherklapperte—war am Morgen Kindern auswendig von der Hand gegangen, ein Umstand, auf den hinzuweisen sich die ebenfalls anwesende Gunild Keetman nicht verkneifen konnte.

Der Ekstatische Tanz, das zweite Stück vorwiegend rhythmischer Natur, gehört zu den großen Bewegungsmusiken Gunild Keetmans, die auf die Arbeit an der Günther-Schule zurückgehen. Tänzerische Entladung und spannungsreiche Verbindung von organischem Klatschen und instrumentalem Schlagwerk bestimmen dieses ganz auf die rhythmische Schraffur zurückgenommene Werk.

Ebenfalls der Zeit an der Günther-Schule verpflichtet scheinen die Spielstücke in Gunild Keetmans Spielbuch für Xylophon zu sein, das in drei Bänden 1966 erschien (Nr. 2–4). In den Zwanziger Jahren hatte sich Keetman noch von Grund auf mit der Spielweise dieses für Europäer damals neuartigen Instrumentes vertraut machen müssen, heute erinnern uns diese flüchtigen perkussiven Stücke voller Zwischenrhythmen und Zwischentakte (Nr. 2 steht im 3+2+2+2-Achtel- und Nr. 3 im 3+3+2-Achtel-Rhythmus) an die Synthesizer- und Minimal Music eines Philip Glass und Steve Reich.

Die Kanons aus Keetmans Stücken für Flöte und Trommel dagegen, unter dem Titel Jugendmusik der Musik für Kinder (1950–54) ergänzend zur Seite gestellt, greifen auf die versunkene Welt der mittelalterlichen Stadtpfeifer und volkstümlichen Spielmusiken für Trommel und Einhandflöte zurück (Nr. 5–9). Kanon Nummer eins erklingt dreimal, erst als ganzes Stück, dann zweimal als Kanon, so daß die musizierenden wie zuhörenden Kinder gleich ein Formgefühl entwickeln können. Im zweiten Kanon sorgt das wie Pferdegetrappel klingende Schlagwerk für spielerischen Reiz; der vierte ist ein kleiner Militärmarsch, in dem der Trommler von links nach rechts wandert, während der fünfte elegischer gehalten ist und die Flöten herausstellt. Alle fünf Kanons aber scheinen eine Spielzeugwelt der Zinnfiguren und Marionetten zu beschwören—der neunjährige Orff selbst hätte sie in seinem Puppentheater verwenden können. (Das Rondo Nr. 17 aus Orffs Musik für Kinder, Band I, klingt denn auch ein wenig nach dem Versuch von Marionetten, sich einen zünftigen Anstrich zu geben.)

Ganz anders im Charakter dagegen die Beispiele Nr. 19 bis 21, ebenfalls aus den Stücken für Flöte und Trommel: hier läßt Keetman die Flöte traumversunken improvisieren, als würde der Spieler nur seinem Spiel lauschen und die Welt ringsum nicht mehr wahrnehmen. Die Melodie in Nr. 37 indes greift den Beginn von Strawinskys Sacre du Printemps (1913) auf, schon bei Strawinsky ein Volkslied.

In Orffs Vier Tanzstücken (Nr. 10–13) wird wiederum eine ähnliche Welt lebendig wie in Béla Bartóks sechsbändigem Mikrokosmos für Kinder. Dieser entstand zwischen 1926 und 1939 und damit im gleichen Zeitraum wie Orffs erste Fassung des Schulwerks, zu der die Klavier-Übung von 1933 und die im selben Jahr erschienene Geigen-Übung I gehören. Spätestens durch die Schulaufführungen der Günther-Schule dürfte Orff mit den noch vor dem Mikrokosmos komponierten Kinderstücken Bartóks vertraut geworden sein, freie Bearbeitungen alter ungarischer und slowenischer Tänze und Kinderlieder—in den Nummern 10 bis 13 scheint Orff noch einmal dieser versunkenen Welt nachzuhorchen.

Die Stücke der in zwei Heften herausgegebenen Geigen-Übung,—hier erstmals eingespielt—sind technisch zum Teil recht anspruchsvoll (Vgl. Nr. 13): Orff hatte sie zusammen mit den Geigenpädagogen Erich und Elma Doflein für deren Geigenschulwerk (1932–50) erarbeitet, eines der bedeutendsten Werke der modernen Violinpädagogik, für das neben Orff auch Hindemith und Bartók Beiträge lieferten.

Die vorliegende Einspielung versammelt aus Carl Orffs und Gunild Keetmans großem pädagogischen Lebenswerk nicht nur Musikstücke unterschiedlicher Besetzung—für Xylophon bzw. Flöte mit Schlagwerk, Streicher oder instrumentalbegleitete Singstimme—, sie führt auch die Vielfalt ihrer Charaktere und Stimmungen vor. So tut sich mit den nur vermeintlich kleinen Musikstücken des Schulwerks ein ganzer Kosmos auf: atmosphärisch dichte Musik von starker suggestiver Kraft wechselt mit einer Musik der Weite, wie sie in den Steppen-Landschaften des alten Osteuropa beheimatet gewesen sein könnte, eine Musik, die prozessionsartig dahinfließt, um dann wieder von beschwingt-spielerischen Weisen abgelöst zu werden. Es wäre eine fatale Verkennung, bei dieser Musik von einem Primitivstil zu sprechen, denn diese Musik ist nichts weniger als unmittelbar und gehaltvoll, eben elementar, oder, in Orffs Worten:

Elementare Musik ist nie Musik allein, sie ist mit Bewegung, Tanz und Sprache verbunden, sie ist eine Musik, die man selbst tun muß, in die man nicht als Hörer, sondern als Mitspieler einbezogen ist—sie ist vorgeistig, kennt keine große Form, keine Architektonik, sie bringt kleine Reihenfolgen, Ostinati und kleine Rondoformen. Elementare Musik ist erdnah, naturhaft, körperlich, für jeden erlern- und erlebbar, dem Kinde gemäß.

Susanne Schmerda