“... AN DEN FINGERN OHREN” — CARL ORFF

Es war eine Zeit des Experimentierens, die Carl Orff als Lehrer an der Tanz- und Gymnastikschule Dorothee Günthers in München verlebte. Anfang der zwanziger Jahre auf der Suche nach elementaren, ursprünglichen Kräften in der Musik, besann sich der junge Orff auf die einigende Kraft des Rhythmus: Sprache, Musik und Bewegung sollten durch ihn wieder vereint werden. Erneuerung der Musik vom Tanz her - dieser Prämisse folgte auch die junge Schriftstellerin Dorothee Günther, und so taten sich beide 1923 zusammen, um schon ein Jahr später die Günther-Schule zu eröffnen; eine Schule zur Lehrausbildung in moderner Körper- und Tanzerziehung, in die Orff seine neuen Ideen als Musikerzieher einbrachte.

Ausgehend von einfachen rhythmischen Improvisationen mit Händeklatschen, Fußstampfen und selbstgefertigten Rasseln, zog Orff zunehmend Instrumente hinzu: Xylophone, Glockenspiele, Pauken, Tambourine, Schellenbänder und Triangeln. Heute ist dieses Orff-Instrumentarium längst in Kindergärten, Schulen und therapeutischen Einrichtungen weltweit etabliert. Damals aber war alles noch eine Zeit des Ausprobierens, Verwerfens, Neubeginns, während der Orff entscheidend unterstützt wurde von seiner Mitarbeiterin Gunild Keetman. Ab 1930 dann hatte diese Phase ein Ende, das Erprobte wurde erstmals in Publikationen festgehalten und Interessierten zugänglich. Die bis 1935 erschienenen Einzelhefte bilden heute die erste, bewegungsbetonte Fassung des Orff-Schulwerks, der 1950 bis 1954 dann eine Neukonzeption folgte unter dem Titel “Musik für Kinder”.

Zum Pflichtfach der Günther-Schule gehörte die “Klavier-Übung”, die für alle Auszubildenden verbindlich war. Orff begann zunächst mit Klang- und Anschlagproben am Klavier, erwartete von den Fortgeschrittenen aber bald Bordunübungen und mehrstimmige Improvisation. Er selbst lieferte vom Klavier aus musikalische Anregungen. In ihren “Erinnerungen” hat Gunild Keetman diese Stunden eingefangen: “Wenn Orff sich ans Klavier setzte und anfing zu spielen - ich weiß nicht mehr, was, aber wie er spielte, sozusagen mit vier oder mehr Händen -, zauberte er neue Klänge [...] Oder er improvisierte immer Neues und Überraschendes und konnte kaum enden... Es war eine oft hart anmutende Musik, in der Quinten und Quarten, auch Sekunden dominierten, in der keine kadenzierenden Abschlüsse, selten Dreiklänge vorkamen, dafür aber weitgespannte freie Melodiebögen, die sich meist den Gesetzen der Symmetrie und der Entsprechungen entzogen, die neue, große Räume schafften.”

Die vorliegende CD-Einspielung bündelt Klavierstücke Carl Orffs, die gewissermaßen den Ausbildungsverlauf an der Günther-Schule spiegeln. Seine 1934 veröffentlichte “Klavier-Übung”, auf der die CD-Tracks 1-5 basieren, versteht sich als “Melodiebuch für den Anfang”. Versammelt sind hier vierzig kurze Spielstücke, oft nur eine oder zwei Notenzeilen lang, unterteilt in “Kleines Spielbuch I und II”. Der Bremer Pianist Nikolaus Lahusen hat für diese Einspielung einige Stücke zu kleinen Suiten zusammengestellt, wie Orff es in seinem knappen Vorwort einst angeregt hatte.

Wer glaubt, diese Klavierstücke seien verkappte Etüden für den Anfänger oder bloße pädagogische Übungen, täuscht sich und sollte genau hinhören: zwar entwaffnend schlicht im Satz, doch voller Poesie, fragil und zart sind diese Miniaturen. Die Melodien stehen dem Kinder-, Volks- und Tanzlied nahe und sind von bestechender Klarheit, einer Klarheit, die auf alles Überflüssige verzichtet und in ihrer Intensität für sich spricht: immerhin nahm Orff einige der Klavierstücke als elementare Ausgangsmodelle für sein frühes Bühnenwerk. Musikalisch derart auf das Wesentliche reduziert und so in ihrem Ausdruck verdichtet, konnten sie “mit szenischem Sinn begabt werden” (Werner Thomas). Die “Klavier-Übung” (wie auch seine “Geigen-Übung”, 1931, und die “Rhythmisch-melodische Übung”, 1933) - ein Steinbruch für den Theatermann Orff. Gleich zwei Stücke des “Kleinen Spielbuchs II” verwendete er in seiner 1935/36 entstandenen “Carmina Burana”: Nummer 32 bildet die Vorlage zum Tanz “Uf dem Anger” (Nr. 6), der erste Teil der Nummer 36 den Schluß des Orchesterspiels “Reie” (Nr. 9), und der zweite Teil der Nummer 36 schließlich ist Modell für die Summstimme der Nr. 8, “Chramer, gip die varwe mir”. In seinem Märchenspiel “Der Mond” übernahm Orff die Nummern 34 und 35 für seinen “Tanz nach Aufhängen des gestohlenen Mondes”, und der Schluß der fünften Szene im “Sommernachtstraum” basiert auf Nummer 12 der “Klavier-Übung”. Doch nur weil die Kleinformen der “Klavier-Übung” in sich so stimmig, komprimiert und genau sind, konnten sie in größeren Rahmen übertragen werden: allein Orffs “Sinn für das Elementare, nämlich die Untrennbarkeit von Geste und Musik” - so der Freiburger Violinpädagoge Erich Doflein - erlaubte ihre Vergrößerung.

Die Anregung zu seinen Klavier-Miniaturen und ihrem gestischen Potential indes empfing Orff zu einem wesentlichen Teil von einem der wenigen zeitgenössischen Komponisten, die sich damals für pädagogische Fragen interessierten: von Béla Bartók. Dessen 1908/09 erschienener Klavierband “Für Kinder”, fünfundachtzig leichte Stücke für Klavier nach ungarischen und slowakischen Volksliedern, war Orff bekannt, ebenso der “Mikrokosmos, Klaviermusik vom allerersten Anfang in sechs Bänden”, 1926-39. In den Schulaufführungen und Vortragsabenden der Günther-Schule stand auch Bartók auf dem Programm: “Von zeitgenössischer Musik waren es vorwiegend die “Kinderstücke” von Bartók (...) sowie das für den Tanz prädestinierte, berühmte “Allegro barbaro””, erinnert sich Orff Jahre später.

In vielem ist Orffs “Klavier-Übung” den Modellen Bartóks verpflichtet, atmosphärisch klingen manche Spielstücke mit wehmütig-archaischem Klang und Balkan-Harmonik an die Welt Bartóks an. Auch motivisch erweist der Münchner Komponist dem Ungarn seine Referenz: gleich das erste Stück greift in seiner ersten Hälfte exakt das Thema von Bartóks Eingangsstück “Spielende Kinder” auf, allerdings in halbiertem Tempo und eine Oktave tiefer gesetzt. Orffs Nummer fünf dann ähnelt dem Bartókschen “Kissentanz” (Nr. 5), die Nummer 17 mit ihrem Oktavaufschwung und nachfolgender Abwärtsfigur dem “Soldatenlied” (Nr. 18). Seine “Klavier-Übung” beschließt Orff noch mit einer weiteren musikalischen Hommage: Adressat ist diesmal der von Orff hochgeschätzte Modest Mussorgsky - das choralartige Schlußstück erinnert an dessen Klavierstück “Auf der Krim”.

Einem anderen Ansatz als die “Klavier-Übung” folgen Orffs “Bordunübungen”: sie basieren auf reiner Klavierimprovisation und waren für die fortgeschritteneren Schüler der Günther-Schule gedacht. “Aus der Improvisation kommend, wollen sie wieder zur Improvisation hinführen,” schreibt Orff in seiner “Dokumentation”, “auf das Finden, Erfinden und Entdecken kam es an. Den Spielern sollten ‘an den Fingern Ohren wachsen’.” Den Bordun, ein zur Melodie mitklingender Haupt- oder Grundton, empfand Orff als essentiellen Ausgangspunkt seiner “elementaren Musikübung”. Zur Ausarbeitung dieser archaischen Fundamentform entwickelte er den “Bordunstil”: Orff begann mit leichten Klang- und Anschlagsproben, ließ Bordunquinten in verschiedenen Lagen spielen, zu der auch bewegliche, sogenannte “schweifende Bordune” traten. Im fortgeschritteneren Unterricht dann sollten zu dieser Klanggrundierung Melodien improvisiert werden, wobei zwei Schüler an einem Instrument zunächst nur zwei Parts spielten, bis dann das Vierhändigspiel mit Oktavierungen hinzukam. Das Bordunspiel mauserte sich zu einer “unerschöpflichen Quelle für neue Melodiebildungen”, die Techniken wurden verfeinert und reichten vom paraphonen Spiel mit Quint- und Quartverdopplung der Melodie über Diskantieren bis zur Einbeziehung von pentatonischen Skalen, Tanzrhythmen und Rondoformen.

In dem 1973 erschienenen Schulwerk-Band seiner “Dokumentation” hat Orff diese Bordunübungen erstmals schriftlich fixiert. Es sind Notate meist aus dem Gedächtnis, entstanden aus der Erinnerung an die Unterrichtsstunden der Günther-Schule, und Orff will sie in diesem Sinne auch verstanden wissen als “Anregung, Hinweise und Aufzeigen verschiedener Möglichkeiten elementarer Improvisation”, nicht als fertig ausgearbeitete Kompositionen. Vielleicht zählen diese Improvisationen deshalb zu den wohl modernsten, freiesten und konsequentesten Stücken Orffs.

In der vorliegenden Aufnahme - eine Ersteinspielung der “Bordunübungen” - wurde ihr “Hinweischarakter” beherzigt: Nikolaus Lahusen, in den Stücken 1, 4, 7, 8, 9, und 11 “unterstützt” vom Münchner Komponisten und Orff-Schüler Wilfried Hiller, dem Koproduzenten dieser CD-Serie, hat die Orffschen Modelle notengetreu übernommen, oftmals aber zusätzliche Wiederholungen
der schlichteren Anfangszeile am Schluß eingeschoben oder mit Oktavierungen und Oktavverdopplungen gespielt. Den Beginn der “Bordunübungen” macht eine schlichte Melodie im Quintumfang mit einfachen und schweifenden Bordunen und einer Diskantstimme in wechselnder Lage (Nr.1). Nummer 4 und 5 sind zart-wiegende Berceusen; um eine Ostinato-Übung, genauer, um “allerlei Spielereien” mit Zeitmustern, handelt es sich in der sechsten Bordunübung: wie ein Spielwerk schnurren Ober-und Unterstimme ab bis hin zur virtuosen Steigerung in doppeltem Tempo - dieses Stück ist geradezu ein Kompendium möglicher Spielweisen bei begrenzter “Materialvorgabe”. Nach Art eines Rondos ist Nummer 7 geformt und führt verschiedene Melodietypen über gleichbleibender Bordunbegleitung vor. Aberwitzig und frech huscht Nummer 9 vorüber, erklingt aber nach Einschub hämmernder Bordun-Akkorde (Nr. 8) zum Glück noch einmal. Geradezu behäbig und bodenständig wirkt darauf das alte Volkslied “Der Meye” (Nr.11), während ein neues rhapsodisches Moment mit dem Zwiesprache führenden Rezitativ der Nummer 13 einkehrt. Schwerfällige Pesante-Schläge eröffnen die pentatonischen Sequenzen von Nummer 14: nach impressionistischem Passagenwerk der rechten Hand wird ein dreistimmiges Ostinato eingeleitet, das schon bald minimalistisch-stehende Klangblöcke wie in der Musik eines Steve Reich ausbildet, bevor die Improvisation in irisierenden Sekund-Achteln ausläuft.

Von der stilistischen Vielfalt kurzer Klavierstücke vermag die Werkauswahl dieser CD zumindest eine Ahnung zu vermitteln. Gertrud Orffs “Kleine Klavierstücke” von 1954 sind zwar ebenfalls knappe Verdichtungen von Material und Ausdruck, doch von ganz anderer Qualität als die Orffschen: ihre vierundzwanzig Miniaturen - erschienen in vier Heften à 6 Stück - sind raffinierter und zwiespältiger als die mehr von innerer Kraft getriebenen “Klavierübungen” ihres Ehemannes Carl Orff, mit dem sie von 1939 bis 1953 verheiratet war. Die einfühlsamen Stücke erinnern oftmals an japanische Aquarelle, sind gekonnt entwickelt aus dem Augenblick. Sie sind “entstanden und gewonnen eigentlich als fertige Gestalten”, wie Gertrud Orff selbst schreibt, wurden auf der Klaviatur entworfen als “ertastete Formen”, sozusagen “aus der Hand, für die Hand”. Manche Stücke wirken in ihrer Prägnanz wie der Beginn einer nachfolgenden Begebenheit, wie die Initialformel eines “Es war einmal...” oder “Es begab sich einst...” - einen tatsächlichen Abschluß gibt es oft nicht, einige Stücke enden im harmonisch offenen Raum. In Heft IV beispielsweise gäbe das zweite Stück mit seiner wunderbar kristallinen Struktur aus Quint-Motiven reichlich Material für ein viel längeres Stück, und die vorletzte Nummer, rhapsodisch ausschweifend und doppelt so lang wie die übrigen 23 Stücke, endet nur scheinbar mit der Achtelfigur der linken Hand. Manche Stücke fangen Stimmungen ein - Nummer vier in Heft II das helle Licht einer Griechenlandreise - oder sind imaginierte Zwiegespräche, wie die Nummer vier im ersten, dritten und letzten Heft. Helle Farben, hohe Lagen in beiden Händen, perlendes Skalenspiel, Glockentöne, dann wieder polyrhythmisches Gegeneinander ähnlich dem Gejage eines Kobolds (Heft 4, Nr. 6) - mit wenigen Pinselstrichen wird hier oftmals eine Welt en miniature beschworen. Gertrud Orffs “Kleine Klavierstücke” sind Momentaufnahmen des Lebens, kaleidoskopische Bündelungen von Eindrücken, atmosphärisch dicht und konzentriert. Als “fertige Gestalten” gewonnen, können diese Destillate auch nur in ihrer Gesamtheit erfaßt und wiedergegeben werden. Ein langes Einstudieren des Notentextes täte ihnen Abbruch: schließlich sind die Klavierstücke weder Übestücke für den Anfänger noch Anlernung für das Kind.

Susanne Schmerda